05. Sept. 2024
Das 100%-Problem: Wenn Transformationen ins Stocken geraten
„Menschen tun immer genau das, was für sie im aktuellen Kontext und nach ihrem gegenwärtigen Verständnis am sinnvollsten ist.“Gene Bellinger, Organisations- und Systemtheoretiker
Was für die Menschen sinnvoll erscheint, kann durch Purpose und Vision entsprechend beeinflusst werden, sofern sie von den Beteiligten unterstützt werden. Wenn es nicht an fehlendem Alignment liegt, dass eine Transformation ins Stocken gerät, können die beiden folgenden Gründe dafür verantwortlich sein:
Transformationsproblem 1: Unterschiedliche Zeitpräferenzen
Alle Mitarbeitenden sind in weiten Teilen ihrem Alltag und gewissen Routinen verhaftet. Dieser Alltag beschäftigt sich mit unterschiedlichen Zeithorizonten: Operativ Arbeitende orientieren sich in ihren Aufgaben eher kurzfristig, Führungskräfte eher mittel- bis langfristig.
Das ist organisatorisch verankert: Führungsebenen dürfen weitreichendere Entscheidungen treffen, weil von ihnen erwartet wird, eine langfristigere Perspektive einzunehmen. Die operativen Ebenen verantworten Entscheidungen mit eher kurzfristigen und leichter überschaubaren Konsequenzen.
Hat man den immer gleichen Zeithorizont im Blick, kann sich eine Prägung entwickeln, die nicht leicht zu überwinden ist. Bei operativ Arbeitenden spricht man oft von einer Gegenwartspräferenz, die es den Menschen erschwert, langfristig angelegte Zukunftsbilder des Unternehmens auf ihren praktischen Alltag zu übersetzen. Bei Führungskräften kann sich eine Zukunftspräferenz einstellen, die den Blick auf die Herausforderungen der Gegenwart und die konkrete Übersetzung der Unternehmensvision auf den Arbeitsalltag erschwert. Beide Phänomene können die Organisationsentwicklung beeinträchtigen. Für den Verlauf einer Transformation ist relevant:
- An einer Veränderung der Organisation sind Menschen beteiligt, die unterschiedliche Zeitspannen im Blick haben anhand derer sie Entscheidungen treffen.
- Ausgeprägte Gegenwarts- und/oder Zukunftspräferenzen erschweren eine Transformation. Eine gewisse Flexibilität im zeitlichen Denken ist notwendig, damit langfristige Ziele und gegenwärtiger Arbeitsalltag positiv zusammenwirken können.
- Erfolgserlebnisse werden im Rahmen der Zeitspanne erwartet, auf die sich die jeweilige Person in der Regel konzentriert. Kurzfristig orientierte Menschen erwarten schnelles und regelmäßiges Feedback darüber, wie sich ihr verändertes Verhalten im Rahmen der Transformation auswirkt. Langfristig Orientierte erwarten solches Feedback in eher größeren Abständen.
Es lohnt sich, die unterschiedlichen Zeithorizonte und die damit verbundenen Erwartungshaltungen als Teil der Transformation zu berücksichtigen. Sonst kann sie von manchen als wirkungslos empfunden werden, weil sie die Konsequenzen der Veränderungen nicht innerhalb der gewohnten Zeitspanne erkennen.
Transformationsproblem 2: Die 100%-Skalierung
Menschen neigen dazu, die Bedeutung ihrer Tätigkeiten auf 100% zu skalieren, während sie sie ausführen. Das ist sowohl im Sinne der jeweiligen Person als auch der Organisation:
- Für die Einzelperson entsteht durch die Skalierung Bedeutung und sie stärkt den Selbstwert. Zudem erleichtert sie es den Mitarbeitenden, sich auf ihre Aufgaben zu konzentrieren, ohne sich ablenken zu lassen.
- Die Organisation als Ganzes profitiert von dieser Skalierung der Wichtigkeit, indem die Arbeiten zuverlässig erledigt werden.
Diese Neigung beeinflusst alle Mitarbeitenden, Führungskräfte eingeschlossen, und sie wird durch die Organisation gefördert, durch positives Feedback, Prämien oder Ansprachen, die bspw. die Bedeutung einer Abteilung hervorheben. Sie sorgt für Stabilität in der Organisation. Leider erschwert sie aber auch Veränderungen und kann in einer Transformation zu komplexen Herausforderungen führen:
- Die Schwierigkeit, sich auf ein gemeinsames Ziel zu einigen: Die Skalierung der Bedeutung der eigenen Aufgaben macht es schwerer, auch anderen Tätigkeiten und Zeithorizonten ebenbürtige Bedeutung zuzugestehen. Dieses Problem wird oft sichtbar, wenn es um Details einer Vision und um konkrete Strategien oder Maßnahmen geht. Auf abstrakter Ebene ist eine Einigung problemloser zu erreichen.
- Betriebsblindheit und Stagnation: Mitarbeitende aller Art können in ihrem Alltag und Zeithorizont derart verhaftet sein, dass sie andere Zeiträume und Kontexte kaum wahrnehmen oder sich die Überzeugung einstellt, dass bei all den aktuellen Aufgaben kein Raum für größere Veränderungen ist – selbst dann nicht, wenn man sie eigentlich unterstützt.
- Bedeutungsverlust: Durch die Skalierung birgt jede Änderung im Arbeitsalltag das Risiko eines Bedeutungsverlusts, der als persönliche Bedrohung oder Kränkung empfunden werden kann. Dabei handelt es sich nicht um eine „Empfindlichkeit“ der betroffenen Personen, sondern um die logische Konsequenz eines Verhaltens, das die Organisation im Kern begrüßt und fördert.
- Dynamik: Entstehen im Rahmen der Transformation neue Aufgaben oder Aufgabenbereiche, werden auch diese in ihrer Bedeutung von den Beteiligten skaliert. Das ist ganz im Sinne der Veränderung, kann jedoch dazu führen, dass zu viele Veränderungen in zu kurzer Zeit vorgenommen werden.
Die Skalierung der Bedeutung eigener Aufgaben ist ein zweischneidiges Schwert: Sie hilft der Organisation bei der verlässlichen Bewältigung aller Aufgaben und kann Veränderungen gleichzeitig erschweren.
Der konkrete Tipp für eine erfolgreiche Transformation
Zielbilder, Strategien und geplante Maßnahmen sind wichtige Elemente einer Transformation. Doch sie allein sorgen nicht dafür, dass sich die Organisation in Richtung des Ziels bewegt. Change ist komplex, der Verlauf schwer planbar. Zu viele Menschen mit unterschiedlichen Prioritäten, Aufgaben und Zeithorizonten müssen an einem Strang ziehen, um die Vision Wirklichkeit werden zu lassen.
Tauchen Widerstände während der Veränderung auf, muss das nicht an mangelndem Willen oder diffusen Ängsten der Beteiligten liegen. Manchmal sind es logische Konsequenzen eines Verhaltens, das im Kern von der Organisation unterstützt und gebraucht wird. Unterstellungen oder Vorwürfe, die entsprechenden Mitarbeitenden würden nicht im Sinne des Unternehmens handeln, sind in diesen Fällen nicht nur kontraproduktiv, sondern auch eine Fehleinschätzung.
Transformation ist ein lang andauernder Lernprozess für alle Beteiligten, bei dem es Fortschritte und Rückschritte gibt. Offene Kommunikation und das kontinuierliche Integrieren möglichst vieler Beteiligter unterstützen beim Durchschreiten der Täler genauso wie beim Feiern der Erfolge.
Berücksichtigen Sie die unterschiedlichen Zeithorizonte, die die Mitarbeitenden im Fokus haben sowie die Effekte der Bedeutungsskalierung. Dann können Sie unliebsame Überraschungen im Change-Prozess vermeiden. Und wenn Sie darauf hinwirken, dass die Mitarbeitenden Erfolgserlebnisse im Rahmen ihres gewohnten Zeithorizonts erleben, werden sie sich aktiver im Change-Prozess beteiligen und die Transformation bleibt in Bewegung.