23. Okt. 2025

Sind Organisationen wie Organismen? Eine Metapher mit großem Potenzial und Grenzen

Gerade im Umfeld systemischer und agiler Organisationsentwicklung ist die Metapher vom Unternehmen als Organismus verbreitet. Sie suggeriert: Unternehmen sind lebendige Systeme, eingebettet in ein komplexes Umfeld, ständig im Austausch mit ihrer Umwelt und gezwungen, sich anzupassen, um zu überleben. Doch wie tragfähig ist dieses Bild – vielleicht auch gerade jetzt, wo Künstliche Intelligenz unsere Arbeitswelt verändert?
2024 Marc Riedinger

Autor:in

Marc Riedinger

Organismus Metapher

Vom Überleben zum Lernen: Was die Organismus-Metapher leistet 

Organisationen, die sich als Organismen verstehen, richten ihren Fokus nach außen – auf Kunden, Märkte, Wettbewerber und Ressourcen. Sie erkennen ihre Abhängigkeit von äußeren Faktoren und reagieren flexibel auf Veränderungen. Das fördert Innovationskraft, Lernbereitschaft und strukturelle Beweglichkeit – zentrale Elemente der Lernenden Organisation nach Peter Senge. 

Insofern ist das Selbstverständnis einer anpassungsfähigen Organisation anderen Sprachbildern überlegen, die sich entweder stark mit sich selbst beschäftigen oder strukturell unbeweglich sind. Beispiele dafür sind Metaphern wie Maschine, Familie oder Spiel

Der Preis dafür ist allerdings hoch: Dauerhafte Anpassung kann große Mengen an Ressourcen verschlingen und Mitarbeitende erschöpfen. Der Fokus auf das Überleben des Ganzen verdrängt oft das Wohlbefinden des Einzelnen. Dazu kommt, dass Einigkeit vorausgesetzt wird – doch wie realistisch ist das in einer recht individualistischen und diversen Gesellschaft? 

Die Grenzen der Metapher – mit Blick auf den Einfluss von KI 

Im Gegensatz zu biologischen Organismen sind Unternehmen keine zufälligen Produkte der Evolution, sondern bewusste Konstrukte: Sie entstehen aus Ideen, Visionen und Wertvorstellungen. Sie sind geprägt von Kultur, nicht nur von Natur.  

Organisationen haben die Wahl, wie sie sich verhalten – sie können sich für oder gegen Anpassung entscheiden. Sie können Sinn und Identität stiften und dies jederzeit ändern. Strukturen und Prozesse werden aktiv gestaltet und überarbeitet – bewusst und freiwillig. 

Ich persönlich schätze den Fokus auf Lern- und Anpassungsfähigkeit der Metapher. Außerdem kann uns dieser Vergleich aus der Biologie stärker bewusst machen, dass Organisationen und Märkte letztlich aus Menschen und nicht aus Zahlen bestehen.  

Andererseits bewegen wir uns eindeutig in einer künstlichen, menschengemachten Wirtschaftswelt, die nicht vollständig von Naturgesetzen bestimmt, sondern von Menschen bewusst gestaltet wird. Damit spielen auch Interessen und Interessenskonflikte eine Rolle. Anpassungen einer Organisation, die durch Veränderungen im Markt oder durch technologische Entwicklungen angestoßen werden, sind nicht deckungsgleich mit evolutionären Prozessen in der Natur. Vermutlich ist es eher andersherum: Die biologische Evolution dient als weiteres Sprachbild, um wirtschaftliche Entwicklungen zu beschreiben. Ganz ähnlich wie die wirtschaftlichen „Ökosysteme“, von denen seit einigen Jahren oft gesprochen wird. 

Mit dem Einzug von Künstlicher Intelligenz in unsere Arbeitswelt verändert sich das Bild nun weiter: Verstehen wir KI als eine Art „neues Sinnesorgan“, das Organisationen hilft, komplexe Umweltsignale schneller zu erkennen und zu verarbeiten?  

In jedem Fall verstärkt KI die Dynamik: Die Zyklen von Reflexion und Anpassungen können kürzer werden und die Notwendigkeit zu lernen steigt stark an. 

Lässt man sich nun darauf ein, aus dem Selbstbild eines Organismus heraus, besteht folgende Gefahr: Organisationen könnten sich noch stärker im Modus permanenter Veränderung verlieren und sich letztlich selbst überfordern. Wie gesagt, der Preis eines solchen Selbstverständnisses liegt im Lern- und Kommunikationsaufwand der Beteiligten und es verlangt eine ausgeprägte Resilienz, um kontinuierliche Veränderung aushalten zu können.  

Die Frage, die sich für mich daraus ergibt: Wie wollen wir in dieser Zukunft eine gute Balance finden aus Anpassungsfähigkeit und Stabilität, Fortschritt und menschlichen Grenzen? Ich denke, in dieser Frage liegt ein Kern der aktuellen Debatte um Sinn oder Unsinn von KI-getriebenen Transformationen. 

Und nun? 

Mich inspiriert die Organismus-Metapher – doch ich finde sie braucht Ergänzungen. Es geht nicht nur um Überleben, sondern auch um Sinn, Identität und nachhaltige Entwicklung. Gerade jetzt, in einer Zeit von Unruhe, Turbulenzen und technologischen Entwicklungen wie KI, sollten wir Organisationen als gestaltbare, lernende und sinnorientierte Systeme begreifen. Und gerade weil Organisationen bewusst gestaltbar sind, also keiner rein externen Steuerung durch Evolution unterliegen, können wir genau das auch tun. 

Was denken Sie?  

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